Corinna Steimel
Selçuk Dizlek – Die Sprache der Substanz
Anlässlich der aktuellen Einzelausstellung „in flux: LinieRaumLicht“ in der Kunsthalle Schweinfurt stellt Selçuk Dizlek seine subtil die Gattungsgrenzen zwischen Malerei, Objekt, Relief, Bildhauerei, Interaktions- und Lichtkunst auslotenden Werkgruppen in einem beeindruckenden Zusammenspiel vor.
Der dieser vorliegenden textlichen Annäherung an ein solch vielschichtiges und vielseitiges Schaffen überschriebene Titel „Die Sprache der Substanz“ ist auf Nachfrage beim Künstler auf unmittelbares Wohlgefallen getroffen. Und tatsächlich: Betrachtet man seinen bisher eingeschlagenen, sehr bedacht gewählten und teilweise gar analytisch verfolgten Werdegang genauer, verwundert seine Zustimmung keineswegs.
Um seine künstlerischen Anliegen anschaulich zu vermitteln und allgemein zugänglich verstanden zu wissen, sei diesem Beitrag die folgende, erläuternde Wortdefinition vorangestellt:
Der Begriff „Substanz“ leitet sich sprachgeschichtlich aus den beiden lateinischen Herkunftswörtern “sub stare” ab. Wörtlich genommen ist darunter das unveränderliche, beharrende und selbstständige Seiende, dasjenige, das “unter” veränderbaren Eigenschaften “steht”, gemeint. Im übertragenen Sinn beschreibt die Wortbedeutung schlichtweg, woraus etwas genau — direkt verstanden, etwa aus welcher Stofflichkeit oder auch ganz abstrakt gesehen — besteht. Während synonym zur Substanz in der Umgangssprache die Ausdrücke Materie, Material oder Materialität Verwendung finden, wird der Begriff in den Naturwissenschaften ausschließlich als Bezeichnung für chemische, feste Stoffe angewandt.
(Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Substanz (Stand 21.11.2021))
Beleuchtet man den künstlerischen Ansatz und den Werkausdruck des 1976 im unterfränkischen Schweinfurt geborenen Künstlers intensiver, fällt unvermittelt seine Zuneigung zur Materialität bei gleichzeitiger höchster Durchdachtheit in den Formgebungen ins sprichwörtliche Auge. Das sinnlich-intuitive und das handwerklich-kreative Zusammenwirken beider Komponenten, die sich aus seinem inneren Drang zum eigenhändigen Gestalten speisen, zieht sich wie der berühmte rote Faden durch sein gesamtes Kunstverständnis.
Faible für filigrane Formvollendung
All seine Kunstwerke sind von einer feinen Ausstrahlung und einer ebenmäßigen Anmutung bestimmt, die er im ausgeklügelten Herstellungsprozess durch die hingebungsvolle Auseinandersetzung seiner mit Vorliebe verwendeten Materialien erreicht. Durch die gekonnt formalästhetische, zur Perfektion getriebene Bearbeitung der Objekte, ihrer Gestaltung wie ihrer Oberflächen, wird dieser reine Effekt mit Einbezug weiterer Mittel, beispielsweise durch die ortsspezifisch vorgegebene Raumerfahrung, die kontrastreiche Farbgebung, den auf Partizipation ausgerichteten Interaktionsraum oder die sich kontinuierlich verändernde Lichtphänomenologie, um ein Vielfaches unterstrichen.
Während und direkt nach seiner Studienzeit an der Kunstakademie Nürnberg, wo er noch bei den Professoren Werner Knaupp und Peter Angermann studierte, hat Selçuk Dizlek sich zunächst noch überwiegend mit den im Periodensystem zu 80 Prozent vertretenen chemischen Substanzen der Metalle, insbesondere den Werkstoffen Eisen oder Messing, beschäftigt.
Ausschlaggebende Impulse für seine schöpferische Inspiration fand er seit seinen frühen künstlerisch-handwerklichen Anfängen in den wegbereitenden Arbeiten des Briten Anthony Caro (1924-2013), einem der bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts. Mit dessen hauptsächlich aus handelsüblicher Schrottware gestalteten Plastiken bestimmte dieser ehemalige Mitarbeiter in der Werkstatt des berühmten Henry Moore (1898-1986) das Fortschreiten der modernen Bildhauerei in die Abstraktion seit den ausgehenden 1950er-Jahren wesentlich mit. Im Gegenzug zu Henry Moore, bei dem zeitlebens das Bild des Menschen und der Menschlichkeit im Mittelpunkt der monumentalen und materialgetreuen Großplastiken steht, bei deren Ausführungen die dem Werstoff innewohnenden Unregelmäßigkeiten sowie die Bearbeitungsspuren dennoch immer miteinbezogen werden, hat Anthony Caro das “Upcycling” (wie man diese damals noch unübliche Arbeitsmethode aus wiederverwerteten Materialien Kunst zu machen aus heutiger Sicht nennen würde) aufs bildhauerische Tapet gebracht. Nicht minder hat den jungen Künstler folgerichtig zudem das plastische Werk des Spaniers Eduardo Chillida (1924-2002), den er noch kurz vor dessen Versterben einmal persönlich getroffen hatte, in seiner Herangehensweise bestärkt, Skulpturen, die raumgreifend sind, oder besser gesagt, die in den Raum eingreifen, zu erschaffen.
Von diesen innovativen Herangehensweisen in der Historie der Bildhauerei zwar ermutigt, aber um gleichzeitig nicht Gefahr zu laufen, die soeben genannten übergroßen Vorbilder in ihren Formensprachen und Werkideen zu kopieren oder zu imitieren, hat sich Selçuk Dizlek schon immer intensiv seinen eigenen “Erforschungen” gewidmet: Er hat sich konsequent auf die eigenen Fahnen geschrieben, fortwährend mit diversen Werkstoffen zu experimentieren, gewissenhaft deren jeweilige Materialbeschaffenheiten zu erproben und seine individuellen handwerklichen Fertigkeiten, die abhängig von den Besonderheiten des untersuchten Werkstoffs sind, kontinuierlich auszubauen.
Wohingegen seine Arbeiten aus seiner Studienzeit noch sichtlich dem Verständnis von kompakt ausgeführten Kernplastiken und figurativ orientierten Gestaltungslösungen verpflichtet sind, ist es Selçuk Dizlek über die vergangenen Jahre aufgrund seiner gründlichen, rationalen Expertise gelungen, sich immer mehr von den tradierten Auffassungen der klassisch-modernen Kunst zu lösen.
Mit seinen sich selbst angeeigneten Fertigkeiten im Gepäck geht er voller Tatendrang seit den beginnenden 2000er-Jahren selbstständige wie eigenbestimmte Wege, die früh von Erfolg gekrönt sind und ihn in seiner Entwicklung eines persönlichen, wiedererkennbaren Stils gestärkt haben.
Auf experimentelle Weise schweißt und/oder schmiedet er seine metallenen Arbeitsmaterialien in freien skulpturalen Form(er)findungen zusammen. Wie filigrane Zeich(nung)en im Raum geben sich die Plastiken dieser Werkgruppen erkennbar, an denen sich früh seine Experimentierfreude und seine nach Eigenständigkeit als freischaffender Künstler strebende Zielsetzung abzeichnete und die sich, wie hier in der Kunsthalle Schweinfurt gut zu sehen, mit den umgebenden Räumlichkeiten wirkungsvoll in Bezug setzen.
Tobias Loemke, Künstlerkollege und Professor am Lehrstuhl für Kunstpädagogik der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen, stellte 2012 anlässlich seiner ersten Einzelschau mit dem Ausstellungstitel “Flexime” im “Salong des Kunstvereins”, ebenfalls in der Kunsthalle Schweinfurt lokalisiert, bereits eine “zentrale Wurzel” des bereits weiter oben erwähnten klassischen Bildhauers Anthony Caro und dem jungen Künstler fest, wonach beide “mit Linien aus Eisen Raum” definieren.
Durch die eigens entwickelte Technik der Verbindung der Eisenelemente miteinander als bewegliche Gelenke, weicht Selçuk Dizlek insofern jedoch von seinem modernistischen Vorgänger ab, indem seine Gebilde nicht stativ bleiben, sondern sich durch Allansichtigkeit auszeichnen. Ihre Erscheinungsbilder passen sich je nach eingenommenem Blickwinkel an oder lassen sich sogar beim direkten Kontakt nach persönlichem Belieben verändern.
Selçuk Dizlek greift gerne auf industriell für den baugewerblich-architektonischen Kontext produzierte Handelsware, Gebrauchsgegenstände und diverse Fundstücke zurück. Unter Zuhilfenahme von metallenem Rohmaterial, d.h. von eigentlich “kunstfernen” oder “kunstfremden” Materialien wie unbehandeltem, blankem Vierkanteisen oder von ausschließlich in gewöhnlichen Baumärkten erhältlichen Messingprodukten (=Legierungen aus Kupfer und Zink), gelingt es ihm wortwörtlich, “tiefer an die Substanz zu gehen” und zuvor Ungewohntes, gar Unaussprechliches, zu artikulieren.
Bewusst belässt er schon vorhandene rostige Stellen sowie die beim Entstehungsprozess verursachten Bearbeitungsspuren. Als auffälligen Kontrast integriert er hingegen bei seinen “Scharnieren”, die er zum Verbinden der einzelnen Teile, Stäbe, Bänder, etc. benötigt, blitzende, da auf Hochglanz polierte, Edelstahlschrauben.
In Kombination mit seiner eigens entwickelten Technik der verschiebbaren und beweglichen Elemente hat er neuartige Formen von Beweglichkeit in seine objekthaften, skulpturalen, teilweise in seriell ausgearbeiteten Werkreihen sowie zu Installationen ausgeweiteten Werkgruppen inte-griert und dadurch Mobilität und Flexibilität in das eigentlich unbewegliche Medium der Bildhauerei gebracht.
Die individuell-innovativen Zutaten seiner gattungsüberschreitenden Kunstauffassung sind im Rahmen seiner Werkvorstellung 2014 im baden-württembergischen Stuttgart überregional gewürdigt worden. In der vom Kunsthistoriker Dr. Berthold Naumann für das “Galerienhaus” im Stuttgarter Westen in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler konzipierten und kuratierten Solo Show „LINIE IN FLUX: OBJEKTE UND INSTALLATIONEN“ ist die Eigenart und Vielschichtigkeit seiner künstlerischen Position in der präzise arrangierten Zusammenschau auf äußerst einprägsame wie beeindruckende Weise ersichtlich geworden. Auch die Autorin des vorliegenden Textes lernte den Künstler bei dieser Gelegenheit kennen.
Ein kurzer Auszug aus der damaligen Eröffnungsrede macht deutlich, wie der Schwerpunkt der facettenreichen Präsentation hauptsächlich auf die dynamischen Kriterien im Werk des jungen Künstlers ausgerichtet war:
„In der mit ‘Blitz-Wald’ betitelten Installation erstrecken sich zahlreiche Vierkanteisen aus Messing zickzackartig in die Höhe. Aus Skateboard-Decks kombinierte, geknotete und geknäulte Gebilde sehen aus wie von Vögeln gebaute Nester oder von wilden Naturkräften geformte Wüstenblumen. Als seien es jeglichen zeitlichen wie räumlichen Dimensionen beraubte, abgestürzte ‘Ufos’ wirken die Kugeln aus Beton und Metall, die sich auf dem Boden wie wahllos verstreut ausbreiten. Eine mit PVC-Farbfolien bespannte Form in Gestalt eines Teppichs schlingt sich als offensichtliches Zitat des Bauhaus-Künstlers Paul Klee (1879-1940) den spiralförmigen Weg quer durch den Ausstellungsraum…”
(Auszug aus der Rede von Corinna Steimel anlässlich der Ausstellung „Linie in Flux: Objekte und Installationen“, Galerie Molliné im Galerienhaus Stuttgart, 2014)
Was damals wie heute klar ersichtlich war und wird, ist neben dem intensiven Einbezug der Werkbeschaffenheiten ebenso die unabdingbare Hingezogenheit zum linearen Erscheinungsbild. Die Linie als dominierendes Gestaltungselement, die sich immer wieder aus der Fläche oder vom Grund abhebt und in den Raum vordringt, verbindet trotz aller Vielgestaltigkeit die von Selçuk Dizlek komponierten Werkkomplexe miteinander. Vieles erscheint uns dabei wie lichte und leichte Zeich(nung)en im Raum und lassen uns die (summierte) Schwere der verwendeten Materialien, seien es massive Kugeln aus Beton, Kacheln aus Keramik oder Stäbe aus Metall, geradezu vergessen.
Glas, Glanz und Gewebtes
Neben der Verwendung von Metall und dem eher partiell zum Einsatz kommenden Beton oder glasiertem Ton, bzw. Keramik, sind Leuchtkästen oder -skulpturen, Lichtstelen oder -plastiken sowie Farbraumobjekte oder -reliefs aus reflektierenden, fluoreszierenden und transluziden Materialien wie Spiegel- oder Plexiglas spätestens seit den ausgehenden 2000er-Jahren nicht mehr aus seinem Repertoire wegzudenken. Vor allem der letztgenannte, vollsynthetisch hergestellte Glasersatzstoff wird im Vergleich zu den übrigen im Werk des Künstlers zum Zuge kommenden Arbeitsmaterialien seit geraumer Zeit verstärkt aufgegriffen.
Bereits im Jahr 2011 befand sich Selçuk Dizlek unter den 23 Künstlerpositionen, die vom Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe im Rahmen des Wettbewerbs „Gewebtes Licht“ von einer internationalen Jury ausgewählt worden waren. Sein Beitrag stand in dieser Themenausstellung symptomatisch für ein Werk, bei dem das Licht selbst zu einem Kunstwerk erklärt werden kann.
Seine aus durchscheinend bunten wie farbneu-tralen Acrylglasteilen bestehenden Formationen, die im Sinne einer geometrisch-abstrakt-konkreten Grundform zu „Leucht- und Lichtstücken“ gefasst werden, können sowohl aus sich selbst heraus, gesteigert durch natürlich einfallende Lichtquellen, als auch im abgedunkelten Raum unter Ultraviolett- oder Schwarzlicht-Beleuchtung farbenprächtigst erstrahlen. Im Wechsel der eingenommenen Standpunkte und abhängig von sich verändernden Lichtquellen, die sich über die Tages- wie Jahresverläufe ergeben, sind die Werke der steten Verwandlung unterworfen und lassen sich immer wieder anders erfahren und erkunden.
Kunststoff im Kontext der Kunst
Die “Gebrauchsgeschichte” dieses im doppelten Wortsinn bedeutsamen “Kunststoffs” innerhalb der Zeit- und Kunsthistorie weist eine spannende Entfaltung auf, die sich - ursprünglich von einer Geschichtslosigkeit ausgehend - im Spiegel der wandelnden Zeiten vom Aufbruch der Moderne über die Zwischenkriegsjahre bis in die Nachkriegszeit vollzogen hat, um im zeitgenössischen Kunstkontext in seiner Präsenz ungebrochener denn je angetroffen zu werden.
Zunächst fand das in den ausgehenden 1910er- Jahren technisch entwickelte Plastik, in Form von Bakelit oder Ebonit, Anwendung im profanen Bereich, um dann nahezu ohne Umwege von der Anhängerschaft progressiver Kunstrichtungen adaptiert zu werden. Als sichtbares Element ist es erstmals bei den Konstruktivisten nachzuweisen.
Ab Ende der 1920er-Jahre wurde zeitgleich in mehreren europäischen Ländern der transparente und thermoplastische Werkstoff mit der fachlichen Bezeichnung “Polymethylmethacrylat”, in Deutschland unter Beteiligung des Chemikers Walter Bauer (1893–1968), hergestellt, um als bei Hitze leicht biegsames und anpassungsfähiges gläsernes Ersatzprodukt bereits ab Mitte der 1930er-Jahre auf den Markt zu gelangen. Seine Materialeigenschaften waren aufgrund seiner Flexibilität und Formbarkeit für die Kunstschaffenden aufregend. Die neuartigen Qualitäten wurden von den Avantgardisten für besondere plastische Formfindungen in neuen Raumkonzepten zur Gestaltung transparenter skulpturaler Bildwerke genutzt, also für andersartige Anwendungsgebiete, die mit traditionellem Glas nicht erschließbar oder möglich gewesen wären.
Eines der ersten Alltagsprodukte, bei dem Acrylglas angewandt wurde, war beispielsweise die Abdeckhaube für das von Hans Gugelot und Dieter Rams aus Metall und Holz entworfene Gehäuse der Radio-Plattenspieler-Kombination BRAUN SK 4 aus dem Jahr 1956 — einer heutigen Design-Ikone.
Über den Einsatz des geschichtsträchtigen Plexiglases in Verbindung mit den Phänomenen Licht und Farbe hinaus, reizt Selçuk Dizlek automatisch die Verschiebung seines ohnehin zwischen Malerei, Objektkunst- und Bildhauerei changierenden, interdisziplinären Werks bis an die Genregrenzen zum Design aus. Dies scheint auf dem Parkett der Kunst noch immer ein gewagter Schritt zu sein, der jedoch vor noch gar nicht allzu langer Zeit aufgrund der viel strenger und klarer verlaufenden Abgrenzungen zwischen den einzelnen künstlerischen Sparten eine Anmaßung, um nicht zu sagen, ein regelrechter Affront gewesen wäre. Paul Reich und Gerlinde Beck waren im südwestdeutschen Raum seit Ende der 1950er-Jahre unter den ersten, die das neuartige, „unbelastete“ Material in ihre Bildhauerei als ausdruckssteigernde Gestaltungselemente, in sogenannten „Lichtplastiken“, „Lichtketten“, „Lichtschachs“ oder „Lichtsäulen“ und „Lichtstelen“, integrierten.
Material als Materie der Magie
Die Welt des Lichts ist die Welt des Sehens sowie des Sichtbaren. Durch das lebensnotwendige Licht, ob ganz konkret als Feuer oder durch Elektrizität immateriell als „Kunstlicht“ erzeugt, kann so ziemlich alles zum Brennen, Glühen, Leuchten und Strahlen gebracht werden. Neben seinen lebensspendenden Eigenschaften hat es auf uns Menschen schon seit Anbeginn eine magische Anziehungskraft versprüht. Unsere Sprache ist gespickt von Sprichwörtern und Redewendungen, in denen es sich wiederfindet: Licht ins Dunkel bringen, jemanden hinters Licht führen, jemandem ist ein Licht aufgegangen, die hellste Kerze sein, ein strahlendes Lächeln haben, Erleuchtung finden, der Nebel lichtet sich, es brennt lichterloh, etc. sind nur wenige Beispiele für schier unzählige Sprachbilder.
Das seit Jahrhunderten ungelöste Rätsel um das Wesen des Lichts wurde mit Anbruch der Ära der Moderne im Jahr 1905 von Albert Einstein (1879-1955) mit dem quantenphysikalische Phänomen des „Welle-Teilchen-Dualismus“ gelüftet.
Treffen Lichtstrahlen auf prismatische Strukturen, so teilen sie sich in verschiedene Wellenlängen auf, die dann als Farben sichtbar werden. Dieser unterschwellig in unsichtbaren Magnetfeldern ablaufende Prozess ist in seiner Alltäglichkeit für uns zwar ganz normal, aber aufgrund seiner Großartigkeit nicht weniger hervorzuheben.
Selçuk Dizlek gehört zu derjenigen Riege von Kunstschaffenden, die das Faszinosum Licht als ein hauptsächliches Gestaltungsprinzip sowie als immaterielle Substanz mit einbeziehen und in seinen Werken auf kunstvolle Weise sichtbar macht.
Bezugnehmend auf die gegenseitig funktionierende Überblendung der magisch-mystischen Wirkungseffekte bei Selçuk Dizleks Licht- und Leuchtobjekten stellt die auf Medienkünstler:innen spezialisierte Galerie von Linde Hollinger in Ladenburg, die mit dem jungen Künstler seit 2013 intensiv zusammengearbeitet hat und wo seine Werke wiederholt in Kollektiv- und Einzelausstellungen, etwa in “Licht und Energie” (2014), Seite an Seite mit Werken von Berühmtheiten wie Madeleine Dietz, Manfred Mohr, François Morellet (1926-2016) oder Vera Molnár zu sehen waren, vortrefflich fest:
Im Gewölbe ist eine Installation mit Objekten zu sehen, die aus fluoreszierendem Plexiglas bestehen. Abgedunkelt und mit Schwarzlicht angestrahlt, entfalten sie ihre ganze Leuchtkraft in kräftigen bunten Farben. Die Lichtlinien sind vertikal angeordnet und ziehen sich in einem Band über die Wände. Aus dem gleichen Material bestehen die Arbeiten aus seiner Serie‚ Lichttexturen‘, die er diagonal auf zwei Ebenen anordnet. Die vorab industriell eingefärbten Werkstoffe geben ein Farbspektrum vor, aus dem der Künstler nach Belieben auswählt und kombiniert. Das Acrylglas ist zwar Träger der Farbe, doch je nachdem unter welchen Bedingungen es mit natürlichem oder künstlichem Licht interagiert, desto mehr tritt die Materialität in den Hintergrund und die Farbwirkung verstärkt sich.”
Über die künstlerischen wie kunsttheoretischen Erkundungen der Beziehungen zwischen Farbe, Form und Raum kann man nicht schreiben ohne deren beiden “Begründer”, die international bekannten Bildhauer Georg Karl Pfahler (1926-2002) und Thomas Lenk (1944-2014) zusammen mit dem Stichwort “Biennale in Venedig” (1970) wenigstens schlaglichtartig in die Gedankenspiele miteinzubeziehen.
Biegungen als Bausteine für Beweglichkeit und Betrachtungsweisen
Vom Motiv der Bewegung werden vor allem die als Kringel- und Kreisformationen oder die als Farb-Raum-Perforationen gebildeten Dizlek’schen Wandarbeiten beherrscht. Betrachtende möchten den Material-Bändern, die Kurven- und Bogenformen schlagen, zwar folgen, die Blicke werden aber immer wieder umgeleitet. Wie hypnotisiert werden wir dadurch in den mikrokosmischen Kern der Kunstwerke hineingezogen.
Bei keinem der Objekte lässt sich der dahinter stehende, aufwendige Bearbeitungsprozess dieses nur im erhitztem Zustand formbaren, nach Abkühlung extrem widerstandsfähigen Materials erahnen. Einen besonderen Reiz erhalten die sich ineinander schlängelnden Gebilde durch die teilweise vor Leuchtkraft glühenden Kanten, an denen sich das Licht des fluoreszierenden Plexiglases bricht.
Oftmals weisen die gewählten Bildmittel erst Anklänge an ornamentale Muster auf oder zitieren die informelle oder konkrete Malerei, um sich im nächsten Augenblick davon abzuheben. Denn nicht wie in der Abstraktion üblich, werden jegliche Bezüge zur Wirklichkeit vermieden. Im Gegenteil: Der Künstler möchte gesammelte Eindrücke, Erinnerungen und Erfahrungen aus der realen Welt, etwa optische Phänomene, wie Sonnenaufgang, Abendröte, Regenbogen oder andere besondere Lichtstimmungen in seine Kunstform transportieren. Eine weitere Quelle der Inspiration stellt für ihn die Pflanzenwelt im Allgemeinen dar, mit ihrem Sammelsurium an gewachsenen Formen, wie etwa die Verästelungen von Bäumen oder Wurzeln, die er im Transformationsverfahren in sein eigenes Gestaltungssystem überträgt.
Wie gewöhnlich gibt es auch hier zwei Seiten der Medaille, eine glänzende und eine dunklere: Die Verwendung von Kunststoff als Substanz, ob im Leben oder in der Kunst, hat gerade in den heutigen Zeiten der Diskussionen um die Vermüllung der Weltmeere durch unseren immensen Konsum an Plastikprodukten eine gesellschaftskritische Brisanz und kommt in unserem Fall einem Statement seitens des Künstlers gleich.
Roland Barthes erkannte bereits im Jahr 1964, dass das “Plastik gänzlich in seinem Gebrauch” aufgeht und dass man “im äußersten Fall Gegenstände um des Vergnügens willen” erfinden würde, “um Plastik zu verwenden. Die Hierarchie der Substanzen ist zerstört, eine einzige ersetzt sie alle”. Im weiteren Textverlauf stellt er in seinem lebensphilosophischen Werk “Mythen des Alltags” etwas sehr Erschreckendes fest, nämlich: “die ganze Welt kann plastifiziert werden, sogar das Lebendige selbst.”
„Panta rhei - Alles fließt“ schrieb in der Antike der griechische Philosoph Heraklit (um 520 v. Chr.; † um 460 v. Chr.) und wollte damit seiner Beobachtung des noch heute gültigen Leitsatzes gesteigerten Ausdruck verleihen, dass alles auf der Welt in ständiger Bewegung, im Flow oder Fluss (lat.: fluxus) sei, also alles andere als plastisch eingefroren sein kann.
Diese “uralte” Weisheit des beständigen Wandels, des Werdens und Vergehens, kann Eins zu Eins auf die schöpferische Idee von Selçuk Dizlek übertragen werden. Seine Substanzen verhalten sich in seinem Kunstschaffen wie bei einer chemischen Reaktion ausgewogen im definierten und definierenden Raum zueinander. Darüberhinaus manifestieren sie die Idee von Bewegung. Simultan lässt die künstlich erschaffene Synthese aus Form und Farbe, Licht(er)fluten und Leuchtkraft seine Werke eingebettet in der Jetztzeit und darüber hinweg wie jeglicher Zeitgebundenheit entrückt erscheinen.
Was uns das Dizlek’sche Werk durch die “Sprache der Substanz” auf hintergründiger Ebene mit auf unsere weiteren Wege gibt, ist existentiell und lässt sich, sinnbildlich gesprochen, folgendermaßen auf den zuversichtlichen Punkt (in diesem Fall ausnahmsweise nicht auf die Linie) bringen: Ein von eingefahrenen, erstarrten Verhaltensmustern, also einer übertrieben strengen Linientreue, abweichender Positions- oder Perspektivwechsel, der von Zeit zu Zeit, in der Kunst, wie im Alltag, empfohlen wird einzunehmen - ungeachtet eines angesichts von omnipräsenten Bedrohungen unausweichlich erscheinenden Stillstands - kann in positivem Sinne als eine bereichernde und lebens(er)füllende Horizonterweiterung erfahren werden…